Ufer-los

Nach dem Schnee ist nun die Natur mit viel Wasser versehen. Auf den Wiesen steht stellenweise das Wasser, die sonst trockenen Gräben sind randvoll, das Rinnsal des Jungbrunnenbachs ist stark bewegt und richtig wild. Man kann nur auf den Wegen gehen. Die Schilffelder rund um den Linsenbergweiher stehen im Wasser.

Der Linsenbergweiher ist auch übervoll. Stellenweise ist er sogar über seine Ufer getreten. Als Ufer wird der Grenzbereich zwischen Wasser und Festland bezeichnet. Diese Grenze kann je nach Wasserstand des jeweiligen Gewässers variieren. In diesem Fall kann man die eigentliche Grenze des Weihers erkennen. Das Wasser jedoch hat sie überschritten. Die Grenze ist nicht mehr klar definiert – sie ist verschwommen.

Welche Grenze im Leben ist schon klar definiert? Natürlich kann es in vielen Bereichen klare Definitionen geben. Man darf bei Rot nicht über die Ampel fahren. Da gibt es keine Fragen. Es ist Rot oder Grün. Das Gelb dazwischen warnt uns höchstens. Aber die Grenze ist immer gleich.

Als ich noch unterrichtete, gab es in meiner Klasse ebenfalls klare Regeln. Einige Abläufe konnten so ohne viel Aufhebens gut gegriffen werden. Aber bei jeder Regel gab es auch Verschiebungen der Grenze. Nicht gemachte Hausaufgaben zogen einen Strich nach sich. Lag eine Entschuldigung durch die Eltern vor, gab es keinen Strich, sondern die Hausaufgabe musste nur nachgeholt werden. Hier wurde die Grenze verschoben. Immer wieder passierte es, dass die klare Definition der Hausaufgabenstriche verschwamm. Die Möglichkeiten, dass man keinen Strich bekam, vermehrten sich. Das ging so lange, bis es zu viel wurde, bis „das Wasser über die Ufer trat“. Dann musste die Regel neu definiert werden.

Ist das über die Ufer treten schlecht? Wir haben gelernt, dass der Nil jedes Jahr weit über seine Ufer tritt. Geht das Wasser wieder zurück, hat es fruchtbaren Schlamm hinterlassen, der das Wachstum auf den Feldern begünstigt und so für eine bessere Ernährung der Menschen sorgt. Durch das Übertreten des Wassers wird man kurzfristig eingeengt, weil die Landfläche kleiner wird. Nach dem Rückgang des Wassers wird diese Fläche wieder frei und kann vielleicht sogar intensiver genutzt werden als vorher.

Wir müssen unsere Erfahrungen mit Grenzen und dem Übertreten von Grenzen machen. Das ist ein steter Balanceakt im Leben. So bleibt das Leben nicht statisch, sondern immer beweglich. Ein Ufer verschwindet normalerweise nicht – es wird nur kurzfristig überdeckt. Dieses Vertrauen dürfen wir immer haben…

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